Münster und Masematte: auf und ab – von Else Gellinek

Natürlich habe ich nach meinem Besuch in Münster nicht über alles berichten können. Aber der Texttreff und die Textinen – also Frauen, die mit Worten und Sprache umzugehen wissen – haben 2019 nicht nur zum Netzwerktreffen nach Westfalen eingeladen…beim Blogwichteln habe ich doch glatt eine Geschichte zu Masematte, der Geheimsprache der Stadt von Else Gellinek geschenkt bekommen. Super Klasse – vielen lieben Dank dafür! 

Straßenzug im heutigen Kuhviertel – ein beliebtes münsteraner Kneipenviertel, Foto: Else Gellinek

Im schönen Münster, wo Anne sich jüngst todesmutig gegen teils freche Radfahrer durchgesetzt hat, gibt es nicht nur schöne Kirchen und gut besuchte Wochenmärkte. Hier wandern auch die Überreste einer Geheimsprache durch die Stadt. Eine Geheimsprache, die heute – zumindest in Bruchstücken – zum ganz normalen Stadtbild gehört. Hier geht es um Masematte.

Tourist*innen in Münster begegnen schnell den üblichen Verdächtigen: Leeze (Fahrrad), jovel (toll). Aber wer länger hier wohnt und das Glück eines münsteraner Ehemanns hat (wie ich), darf tiefer in die Sprache eintauchen. Mein Mann hat sein Leben umgeben von Masematte verbracht. In seinem Handwerksberuf trifft er täglich auf Altgesellen, bei denen Masematte-Wörter ganz selbstverständlich Teil ihrer Alltagssprache ist. Das färbt ab. 

Im häuslichen Alltag streut er viele Masematte-Begriffe im Gespräch ein. So sind bei uns zu Hause Sachen nicht nur jovel, sondern auch schofel (blöd, gemein). Wenn die Koten poofen, nachdem sie in die Firche gegangen sind, schlafen die Kinder friedlich, nachdem sie ins Bett gegangen sind. Früher als mein Mann noch Raucher war, hat er sich eine Fluppe (Zigarette) angezündet. Und so geht es noch endlos weiter. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Masematte sich in der münsteraner Umgangssprache versteckt und sich mir nie als Masematte zu erkennen gegeben hätte. Ich könnte mir vorstellen, dass es noch vielen anderen hier in Münster so geht.

Hofeingang im Kuhviertel – einem der alten Masematte-Viertel. Aufgemalt sind die Bogengänge des deutlich schickeren Prinzipalmarktes, Foto: Else Gellinek

Was ist Masematte genau?

Masematte ist ein alter Rotwelschdialekt, eine sogenannte Gaunersprache, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. Genauer gesagt besteht Masematte aus circa 500 Wörtern, die in deutsche und plattdeutsche Sprachstrukturen eingebaut wurden. Eine eigene Grammatik hat Masematte nicht. Das Wort „Gaunersprache“ sagt schon vieles: Mit diesem Wortschatz, der für Außenstehende nicht verständlich war, konnten Masematte-Sprecher in öffentlichen Räumen verdeckte Gespräche führen und vertrauliche Informationen austauschen. Nicht immer fielen diese verdeckten Gespräche zugunsten ihrer Geschäftspartner, die nicht des Masematte mächtig waren, aus …

Gesprochen wurde Masematte von (hauptsächlich männlichen) umherziehenden Gewerbetreibenden wie Viehhändlern, Scherenschleifern, Schaustellern und wandernden Händlern – unter ihnen viele Jud*innen – und sozialen Randgruppen wie die Sint*ize und Roman*ja. Die Sprache beherbergt also viele Wörter aus Romanes und Jiddisch.

In ihrer Urform war Masematte eine rein gesprochene Sprache. Eine Schrifttradition hätte im Widerspruch zum Zweck der verborgenen Verständigung gestanden. Die damaligen Sprecher sind durch das Fehlen von schriftlichen Belegen aus heutiger Sicht schwer greifbar.

Masematte war kurzlebig. Die Schrecken des zweiten Weltkriegs haben die meisten Sprecher*innen nicht überlebt, und dadurch ist Masematte als lebendes Kommunikationsmedium, in der es eine Gesprächskultur gab, auch gestorben. Eine Ausnahme bilden Baustellen als Fortsetzung des Arbeitsmilieus, auf denen bis in die sechziger Jahre Masematte gesprochen wurde.

Inzwischen werden die letzten lebenden Masematte-Sprecher (die Masemattefreier) langsam sehr alt. Und die paar Masematte-Fetzen, die in Münster zur Alltagssprache gehören, kommen bei weitem nicht an den Status einer echten Sprache heran. Trotz eines gewissen Masematte-Comebacks kämpft die Sprache wie weltweit viele rein mündliche Sprachen gegen das Vergessen an.

Wie geht es Masematte heute?

Masematte hat trotz der widrigen Umstände in Münster wieder eine gewisse Präsenz erlangt. Eine richtige Sprecher*innengemeinschaft gibt es aber nicht. Eher wird Masematte als spaßige lokale Sprachspielerei gepflegt. Münsteraner*innen drücken hiermit auch ihre Zugehörigkeit zu ihrer Stadt aus. Ein Masematte-Wort hier und da zeigt, dass man echte(r) Münsteraner oder Münsteranerin ist. 

In dieser zweiten Evolution hat Masematte einen sozialen Aufstieg hingelegt. Diente Masematte ursprünglich als Kommunikationsmittel für sozial benachteiligte Gruppen, genießt es inzwischen eher Kultstatus. Vom Rande der Gesellschaft in die Mitte der Gesellschaft.

Masematte im münsteraner Städtebild

Eine Prise Masematte strahlt also Lokalkolorit aus und gibt Läden Profil. Das nutzen münsteraner Unternehmen gerne aus.

In Münster gibt es das Outdoorgeschäft Plinte und Joppe (Plinte = Hose, Joppe = Jacke). Bis vor ein paar Jahren konnten Münsteraner*innen im Geschäft Malocher Kowe (Malocher = Arbeiter, Kowe = Kleidung) Arbeits- und Berufskleidung kaufen. Der mobile Zweiradmechaniker Leezen-Doc (Leeze = Fahrrad) erfreut sich in Münster größter Beliebtheit. Sogar der ADFC veröffentlicht für Münster und Umgebung den Leezen-Kurier. Das Car-Sharing Startup wuddi (Wuddi = Auto) treibt seit Neustem mit seinen Elektrowagen die E-Mobilität in Münster und Umgebung voran.

Im doppelten Sinne eine Wuddi-Ladestation, Foto: Else Gellinek

Sogar die Stadt Münster hat sich dafür entschieden, Bürgernähe durch die Verwendung von Masematte zu fördern. Ihre PR- und Aufklärungskampagne „KlimaMischpoke“ (Masematte für Klimagemeinschaft) nutzt gezielt Masematte, um Verbindlichkeit und Zugehörigkeit zu versprachlichen. Mit lockeren Sprüchen auf Masematte werden Bürger*innen zu klimafreundlichem Verhalten animiert. Ein schönes Beispiel: Laber nicht: Leeze fahren, was soviel heißt wie „Quatsch nicht rum: Nimm das Fahrrad“. (Folgt sonst diesem Link zu einem Photo der Litfaßsäulen mit den Masematte-Plakate: Jovel trocknen: Pieselotten auf die Leine. Ungefähr „Vernünftig trocknen: Kleidung auf die Leine hängen.“) Wer hätte gedacht, dass eine Stadt sich mal die Sprache der ehemaligen Elendsviertel stolz auf die Fahnen schreibt und damit für eine lebenswerte Zukunft wirbt? Sprache kann wirklich seltsame Wege gehen.

Ausschnitt aus der „KlimaMischpoke“ Broschüre der Stadt Münster
Pani: Wasser, hamel = total, absolut, wuddi = Auto, pieselotten: Kleidung, mucker= schlau, funzel = Licht

Masematte wird gezielt als Kuriosum Münsters gefeiert. Manch einer macht sich gerne den Spaß und bildet neue Wörter, um moderne Sachverhalte abzubilden. Sachverhalte, die es zu Entstehungszeiten von Masematte nicht gab. Das klingt lustig und hat ein bisschen Knobelcharakter, die Bedeutungen zu entschlüsseln. Wenn Moos Geld bedeutet, wie drückt man Kleingeld aus? Die Antwort: Kotenmoos (Kinder-Geld). Wenn ein Auto „Wuddi“ heißt, was ist dann ein „Luftwuddi“? Genau, ein Flugzeug.

Der Wermutstropfen

Im Gegensatz zu meinem Mann bin ich in Münster eine Zugezogene. Meine Wurzeln liegen in Florida. Dort gab und gibt es immer noch sehr aktive jüdische Gemeinden. Mir ist also im Alltag viel Jiddisch begegnet. Das hat mir den Zugang zu Masematte erleichtert, da ich den jiddischen Anteil auf Anhieb gut verstand. (Bsp. zaster, malochen, macker) Bei dem Rest nutze ich meinen Mann als Übersetzungshilfe. 

In meiner ursprünglichen Heimat, den USA, ist Jiddisch natürlich untrennbar mit Jud*innen verbunden. Jiddische Wörter haben eine klare kulturelle Nähe zum Jüdischen und der Holocaust-Vergangenheit vieler amerikanischer Jud*innnen. Das liegt daran, dass die jüdische Gemeinde da ist und diese Verbindung nicht in Vergessenheit geraten lässt. Sicherlich keine leichte Aufgabe. Der große Fundus an jiddischer Literatur tut das seinige dazu. Bei aller Problematik mit der heutigen Politik ist die Erkennbarkeit und die Geschichte des Jiddischen durchaus im amerikanischen Bewusstsein präsent – auch durch die politische Verwobenheit mit Israel.

In Münster andererseits herrscht in der Allgemeinheit wenig Bewusstsein dafür, dass das lustig-klingende Masematte im zweiten Weltkrieg praktisch ausstarb, als die Sprecher*innen aus verfolgten Guppen, wie Jud*innen und Sint*ize und Roman*ja ermordet wurden und die Masematte-Viertel Münsters durch Bomben zerstört wurden. Hier ist keine lebende Sprecher*innengemeinde mehr da, um die Erinnerung an das traurige Ende von Masematte präsent zu halten. Der soziale Makel, der dem Sprechen von Masematte anhaftete, hat den wenigen überlebenden Sprechern die Pflege von Masematte nicht gerade leicht gemacht. Da es keine originäre Schriftform von Masematte gibt, kann man jetzt nur noch nach Erinnerungsfetzen der wenigen noch lebenden Zeitzeugen und Sprecher*innen greifen.

Stolpersteine im Kuhviertel, Foto Else Gellinek

Dadurch geriet der Ursprung von Masematte aus dem Blick. Auch mein Mann, der münsteraner Urgestein ist, musste zugeben, dass ihm das traurige Schicksal der Masematte-Sprecher im zweiten Weltkrieg nicht richtig präsent war. Masematte verbindet er – wie viele andere – einfach mit einer älteren Generation und den ehemaligen Arbeitsvierteln in Münster. Aber das ist ja nur ein Teil der wahren Geschichte.

Was bleibt von einer Sprache, deren kulturelle Wurzeln gekappt wurden? Manchmal wirkt Masematte wie eine Phantomsprache, die durch Münster geistert, und doch nirgends mehr richtig zuhause ist. Ich finde, es würde der Stellung Masemattes in der Geschichte Münsters gerecht werden, dass die ursprünglichen Sprecher*innen wieder in den Fokus gerückt würden.

Münster bekommt durch Masematte einen charmanten Regionalbezug. Setzen wir doch noch einen Geschichtsbezug dazu!

Quellen:

  • – Strunge Margret und Karl Kassenbrock (1980), Masematte: Das Leben und die Sprache der Menschen in Münsters vergessenen Vierteln 
  • – Lohoff-Börger, Marion (2018), Mehr Massel als Brassel: Endlich Masematte verstehen und einen töften Lenz hegen!
Else Gellinek, Foto: Studio Weigel in Münster

Meine Gastautorin Else Gellinek hat ja im Beitrag schon einiges über sich verraten 🙂 Sie ist die Frau hinter SPRACHRAUSCH und bezeichnet sich selbst als „eine erfahrene Übersetzerin, die bilinguale Muttersprachlichkeit mit linguistischem Fachwissen und interkultureller Kompetenz vereint“. Ihr Wissen um Masematte zeigt ihre Leidenschaft für Sprache, Geschichte und Kultur und ich freue mich sehr über dieses Wichtelgeschenk 🙂

Und natürlich habe auch ich 2019/2020 einige Textinnen bewichteln dürfen:

Bei der Wortspielerin Kerstin Fricke habe ich einen kulinarischen Blick in Asterix Abenteuer geworfen. Allein der Blogname „Lass den Wookie gewinnen“ hat mich begeistert.

Asterix kulinarisch

Und auf den Literatur Feldern von Alice Grünfelder habe ich das moderne Märchen Sungs Laden vorgestellt. 

Sungs Laden

Und weil ich langsam die Übersicht verliere, habe ich alle Beiträge mal zusammengefasst 😉

6 Antworten auf „Münster und Masematte: auf und ab – von Else Gellinek“

  1. Spannend, besonders für mich als unfreiwillige Ex-Interims-Münsteranerin. Ich kannte auch viele Wörter – vielleicht aus dem Romanes oder dem Jiddischen? Und viele kannte ich auch nicht. Das Lokalkolorit – Exklusion durch Inklusion – kann man allerdings ambivalent sehen.

  2. Liebe Elke,

    auch ich kenne wohl viele Ausdrücke aus dem Jiddischen.
    Und finde die Betrachtung und Rückschlüsse von Else zu Vergangenheit und Gegenwart vor allem spannend.
    Liebe Grüße
    Anne

  3. Liebe Frau Art,
    als Margret Strunge-Topp und ich unser Buch über „Masematte. Das Leben und die Sprache der Menschen in Münsters vergessenen Vierteln“ veröffentlichten, war uns klar, dass die systematische Erforschung damit nicht abgeschlossen sein konnte. Masematte interessierte uns von Beginn an nicht nur als Sprachvarietät. Umso bedauerlicher ist es, dass sich unsere „wissenschaftlichen Nachfolger“ in den vergangenen vier Jahrzehnten auf Detailfragen zum Wortschatz und zur Wortherkunft beschränkten. Die Hinweise zu den Sprecherkreisen und den sie prägenden historischen und sozio-ökonomischen Verhältnissen übernahmen sie von uns, ohne sie kritisch zu hinterfragen. (z.B. die von uns verwendeten problematischen Begriffe „Zigeuner“ und „zigeunerisch“)
    In den aktuellen Buchveröffentlichungen zur Masematte steht der Spaß am Spiel mit der Sprache im Vordergrund. Das führt leider dazu, dass die Rahmenbedingungen der gesellschaftlich und ökonomisch randständigen Existenz ihrer „ursprünglichen Sprecher“ wenig beachtet werden.
    Es wäre aber wichtig, diese nichtsprachlichen Aspekte des Phänomens Masematte stärker zu berücksichtigen und damit das vorherrschende eindimensionale Bild vom Masemattesprecher zu revidieren.
    Karl Kassenbrock

  4. Lieber Herr Kassenbrock,

    der Beitrag stammt von meiner Kollegin Else Gellinek, die ich gern darauf verweise. Danke für Ihre Erläuterungen.

    Liebe Grüße
    Anne Webert

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